Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein

Kapitel 1: Vor allem eins: Dir selbst sei treu...

Dieses goldene Wort stammt von Polonius, dem Kämmerer in Hamlet. Für unser Anliegen ist es wertvoll, da Polonius, indem er sich selbst treu ist, es schließlich fertigbringt, von Hamlet »wie eine Ratte« in seinem Versteck hinter einem Wandschirm erstochen zu werden. Offensichtlich gab es das goldene Wort vom Lauscher an der Wand im Staate Dänemark noch nicht.

Man könnte vielleicht einwenden, daß damit des sich Unglücklichmachens zuviel getan war, doch müssen wir Shakespeare etwas poetische Freiheit zubilligen. Das Prinzip wird dadurch nicht geschmälert:

Daß man mit der Umwelt und besonders seinen Mitmenschen im Konflikt leben kann, dürfte wohl niemand bezweifeln. Daß man Unglücklichkeit aber ganz im stillen Kämmerchen des eigenen Kopfes erzeugen kann, ist zwar auch allgemein bekannt, aber viel schwerer zu begreifen und daher zu perfektionieren. Man mag seinem Partner Lieblosigkeit vorwerfen, dem Chef schlechte Absichten unterstellen und das Wetter für Schnupfen verantwortlich machen - wie aber bringen wir es alltäglich fertig, uns zu unseren eigenen Gegenspielern zu machen?

An den Zugängen zum Unglück stehen goldene Worte als Wegweiser. Und aufgestellt werden sie vom gesunden Menschenverstand, ganz zu schweigen vom gesunden Volksempfinden oder gleich gar vom Instinkt für das sich in der Tiefe vollziehende Geschehen. Doch letzten Endes ist es ganz nebensächlich, welchen Namen man dieser wunderbaren Fähigkeit gibt. Grundsätzlich handelt es sich um die Überzeugung, daß es nur eine richtige Auffassung gibt: die eigene. Und ist man einmal an dieser Überzeugung angelangt, dann muß man sehr bald feststellen, daß die Welt im argen liegt. Hier nun scheiden sich die Könner von den Dilettanten. Letztere bringen es fertig, gelegentlich die Achseln zu zucken und sich zu arrangieren. Wer sich selbst und seinen goldenen Worten dagegen treu bleibt, ist zu keinem faulen Kompromiß bereit. Vor die Wahl zwischen Sein und Sollen gestellt, von deren Bedeutung bereits die Upanischaden sprechen, entscheidet er sich unbedingt dafür, wie die Welt sein soll, und verwirft, wie sie ist. Als Kapitän seines Lebensschiffes, das die Ratten bereits verlassen haben, steuert er unbeirrt in die stürmische Nacht hinein. Eigentlich schade, daß in seinem Repertoire ein goldenes Wort der alten Römer zu fehlen scheint:

Ducunt fata volentem, nolentem trahunt - den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen zerrt es dahin.

Denn unwillig ist er, und zwar in einer ganz besonderen Weise. In ihm wird Unwilligkeit nämlich letzten Endes zum Selbstzweck. Im Bestreben, sich selbst treu zu sein, wird er zum Geist, der stets verneint; denn nicht zu verneinen, wäre bereits Verrat an sich selbst. Der bloße Umstand, daß die Mitmenschen ihm etwas nahelegen, wird somit zum Anlaß, es zu verwerfen, und zwar selbst dann, wenn es - objektiv gesehen - im eigenen Interesse läge, es zu tun. (Reife, so lautet bekanntlich der ausgezeichnete Aphorismus, ist die Fähigkeit, das Rechte auch dann zu tun, wenn es die Eltern empfohlen haben.)

Doch das wahre Naturgenie geht noch einen Schritt weiter und verwirft in heroischer Konsequenz auch das, was ihm selbst als die beste Entscheidung erscheint - also seine eigenen Empfehlungen an sich selbst. Damit beißt sich die Schlange nicht nur in den eigenen Schwanz, sondern frißt sich selbst. Und damit ist ferner ein Zustand der Unglücklichkeit geschaffen, der seinesgleichen sucht.

Meinen minderbegabten Lesern kann ich diesen Zustand freilich nur als sublimes, aber für sie unerreichbares Ideal hinstellen.


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